Mobilität der Zukunft – Interview mit Prof. Jürgen Gerlach
Unsere Mobilität muss sich zwingend verändern!
(FGSV 06.10.2022) E-Mobilität, autonomes Fahren, 9-Euro-Ticket-Nachfolge, Flugscham, Tempolimits – kein Tag vergeht ohne Nachrichten zu unserer Mobilität. Wir alle wollen von A nach B und oft auch nach C und D kommen, in der Regel schnell und bequem und am liebsten mit dem eigenen Auto. Entsprechend sind die meisten Innenstädte gestaltet, der Fokus liegt seit Jahrzehnten auf dem eigenen PKW. Ein Umdenken hat begonnen, der Klimawandel fordert seinen Tribut in der deutlichen Reduzierung des Emissionsausstoßes. Prof. Jürgen Gerlach, der an der Bergischen Universität Wuppertal zu Straßenverkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik lehrt und forscht sowie Leiter der Arbeitsgruppe „Verkehrsplanung“ der FGSV ist, über die Frage, wie sich in den nächsten Jahren Mobilität verändern wird – und verändern muss.
Herr Prof. Gerlach, was ist denn Ihr Lieblingsverkehrsmittel? Tatsächlich das, was gerade am besten passt. Ich bin gern multimodal unterwegs. Fliegen versuche ich zu vermeiden und alle Strecken über 50 Kilometer versuche ich mit der Bahn zu absolvieren. Manchmal passt da aber das Reisezeitverhältnis gar nicht und ich entscheide mich dann doch für das Auto. Für kurze Strecken bin ich in den meisten Fällen zu Fuß unterwegs oder nehme das Fahrrad.
Auf dem Deutschen Straßen- und Verkehrskongress 2022 sprechen wir – anders als in früheren Jahren – viel mehr über Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Warum eigentlich? Wir müssen alle Maßnahmen auf den Klimaschutz ausrichten, der Ausstoß von Treibhausgasen ist gerade im Verkehrssektor in den letzten Jahrzehnten nicht zurückgegangen. Mittlerweile gibt es eine entsprechende Gesetzgebung mit dem Ziel, bis 2045 den Schadstoffausstoß des Verkehrssektors auf null zu reduzieren. Das ist auch zu schaffen, erfordert aber einiges an Anstrengung.
Über welche Maßnahmen reden wir denn dabei konkret? Wir reden über Verhaltensänderungen, ohne die es nicht gehen wird. Es muss generell weniger Energie verbraucht werden. Vor allem im Verkehrssektor, aber eben nicht nur da. Die Art und Weise, wo und wie Energie erzeugt und verbraucht wird – das alles muss anders gestaltet werden. Selbst wenn wir so schnell wie möglich alles auf Elektromobilität umstellen, erreichen wir dieses Ziel nicht. Es muss mehr getan werden und wir haben nicht mehr die Zeit, Maßnahmen im gewohnten Tempo umzusetzen. Wir müssen sofort handeln. Deshalb hoffe ich, dass vom diesjährigen Straßen- und Verkehrskongress eine Art Initialzündung für die notwendigen Veränderungen ausgeht.
Welche Stellschraube kann jeder einzelne drehen? Tatsächlich ist jeder einzelne gefordert, sein Mobilitätsverhalten gezielt zu hinterfragen. Geht vielleicht doch ein Tag mehr Home-Office? Muss ich unbedingt in dieses bestimmte Einkaufszentrum oder gibt es vielleicht eine Alternative, die näher ist? Kann ich bestimmte Besorgungen doch mit dem Fahrrad, statt mit dem Auto machen? Oder lasse ich mal das bequeme Auto stehen und nehme den Bus, selbst wenn die Fahrt vielleicht länger dauert.
Und was müssen Politik und Gesellschaft tun? Die Politik muss die Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Mobilität schaffen, also die entsprechenden Gelder umverteilen und Regelungen schaffen. Und die Gesellschaft muss eben bereit sein, ihr Verhalten zu ändern. Ca. 45 Prozent der Kfz-Fahrten in Deutschland sind kürzer als fünf Kilometer. Da lässt sich sicher einiges auf die eigenen Füße oder aufs Fahrrad verlagern. Den Großteil der Emissionen verursachen jedoch Fahrten ab 20 Kilometer Länge. Da ist es mit dem Fahrrad schon ungleich schwieriger. Hier müssen wir tatsächlich mehr über Verkehrsvermeidung sprechen.
Wie gestalten wir Mobilität nachhaltiger? Wir brauchen einen qualitativ hochwertigen ÖPNV, Rad- und Fußverkehr verbunden mit zugänglichen, flexiblen Sharing-Angeboten, wenn jemand doch mal ein Auto braucht. Ein Auto dagegen besitzen muss man nicht unbedingt. Wenn ich mir die jüngeren Generationen anschaue, bin ich in dieser Hinsicht optimistisch, denn da wird nachhaltige Mobilität schon viel mehr gelebt als in meiner eigenen Generation.
Was macht die FGSV konkret fürs Klima? Ganz selbstkritisch: Die FGSV hätte über diese Themen schon früher viel mehr sprechen können. Nun haben wir immerhin mit unseren „E Klima“ eine erste Empfehlung, wie unsere anderen Veröffentlichungen zur Erreichung der Klimaschutzziele beitragen können. Ansonsten haben wir sogar schon sehr vieles. Es gibt beispielsweise eine FGSV-Veröffentlichung mit Empfehlungen für einen verlässlichen öffentlichen Verkehr. Wenn diese alle umgesetzt würden, hätten wir fantastische Busse und Bahnen in diesem Land. Und um mit gutem Beispiel voranzugehen, könnten die Gremien der FGSV statt jährlich zwei Sitzungen in Präsenz eben nur noch eine in Präsenz und eine digital machen. Die Corona-Zeit hat schließlich gezeigt, dass das geht. So hätten wir in diesem Fall schon eine ordentliche Anzahl an Fahrten gespart und würden ein Vorbild sein. Sicher lässt sich so etwas in der Satzung der FGSV verankern oder es lassen sich Regelungen dazu aufstellen. Zudem brauchen wir neue Richtlinien, wie solche zur Bewertung der Klimafolgen verkehrlicher Maßnahmen, für Klima-Checks von kommunalen und regionalen Entscheidungen mit Verkehrsrelevanz sowie zur Gestaltung von Straßenräumen, die Klimafit sind.
Werfen wir noch einen Blick in die Zukunft. Wo sehen Sie unsere Mobilität am Ende des Jahrzehnts? Da müssen wir zwischen den Städten und eher ländlichen Gebieten unterscheiden. Ich bin mir sicher, dass in vielen Städten Ende des Jahrzehnts keine Autos mehr in Wohngebieten unterwegs sein werden. Der Verkehr wird auf wenige Achsen konzentriert, ähnlich wie es heute schon in Barcelona in den „Superblocks“ geschieht. Dann werden Menschen den Verkehrsraum zurückerobern und die Straßen so gestaltet sein, dass wir uns dort wohlfühlen. Dazu gehört viel mehr Grün – das ist auch wichtig, um in den immer heißer werdenden Städten die Temperatur zu mildern. Der Gewinn an Lebensqualität für alle wird höher sein als der Verzicht eines Einzelnen, wenn er nun nicht mehr gleich vor der Haustür parken kann. In vielen Städten weltweit werden diese Maßnahmen schon umgesetzt und die Menschen sind begeistert. Positiver Nebeneffekt: es werden viel weniger Menschen im Straßenverkehr verletzt. Die Mobilität der Zukunft hat auch keine Verkehrstoten mehr.
Und auf dem Land? Da sind die Voraussetzungen ungleich schwieriger. In ländlichen Gebieten werden wir zukünftig viel mehr auf Siedlungsstrukturen entlang von Verkehrsachsen von öffentlichen Verkehrsmitteln setzen und diese gemeinsam mit den Verkehrsachsen entwickeln müssen. Kreuz und quer verteilte Neubaugebiete werden nicht wirtschaftlich mit neuen Bus- oder Bahnlinien erschlossen werden können. Sharing-Angebote können hier ebenfalls dazu beitragen den PKW-Bestand zu reduzieren, sie werden jedoch wohl nicht den gleichen Effekt wie in den Städten haben. Hier ist wieder die Gesellschaft als Ganzes mit einem Mentalitätswechsel gefragt: Können wir uns vorstellen, vom PKW-Besitz zur PKW-Nutzung zu kommen – mit allen Vorteilen, aber eben auch mit ein paar Nachteilen. Ich hoffe, die Gesellschaft kann das.
Eine Abschlussfrage: Woher nehmen Sie die Motivation, sich zur Erreichung von Klimazielen einzusetzen? Ich habe mich mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus März 2021 auseinandergesetzt und dieser mahnt mich. Er bekräftigt, dass alles Gebotene zu tun ist, um den Klimawandel in beherrschbaren Grenzen zu halten. Er legt die Verantwortung nicht allein in die Hand des Staates. Er legt vielmehr nahe, dass wir mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umgehen müssen, dass nachfolgende Generationen keine radikale Enthaltsamkeit hinnehmen müssen. Daher sind wir als Verkehrsexpertinnen und -experten in der Verantwortung, unsere Mobilität zu verändern und alle dahinzubewegen, mit den natürlichen Lebensgrundlagen sorgsam umzugehen..
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